Argumentationslücken des Regierungspräsidiums

Am 4. Mai 2023, knapp ein Jahr nach dem ersten Baustopp aufgrund von Giftfunden durch Anwohner, hat das Regierungspräsidium einen zweiten Baustopp verhängt - aus denselben Gründen. Bei aller Erfreulichkeit dieser Konsequenz ist die Argumentation des Regierungspräsidiums Gießen mehr als verstörend. Sie erweckt den Eindruck, dass es die illegalen Machenschaften der Bau-ARGE deckt.

1) Herkunft unbekannt?

 

In der Pressemitteilung zum Baustopp schreibt das Regierungspräsidium, es müsse die Herkunft des gefundenen Giftes bei Niederklein erst noch klären. Dabei geht aus den Fuhrscheinlisten hervor, dass über 11.000 m3 Erde von der Artilleriestraße (Bauwerk 3) in genau den Trassenbereich zwischen Bauwerk 8 und 9 bei Niederklein verlagert wurden (Bild rechts), in dem das Gift gefunden wurde. Das bedeutet, dass die Erde aus dem Bereich des Altlastengeländes der WASAG stammt, in dem im letzten Mai aufgrund des Fundes von Hexyl bereits ein Baustopp zur Nachuntersuchung verordnet war. Daher hätte die Erde, in der das Gift gefunden wurde, bereits im letzten Jahr hätte untersucht werden müssen. Darauf wurde das Regierungspräsidium Mitte März hingewiesen, ohne dass Konsequenzen erfolgt sind. Soll die Aussage des Regierungspräsidiums nun nahelegen, dass das Beprobungskonzept gar nicht auf den Fuhrscheinlisten basierte???

In einer späteren Antwort (Antwort 2 einer Kleinen Anfrage im hessischen Landtag)[1]: deutet das Regierungspräsidium an, die Erde am Ort des PAK-Fundes entstamme nicht dem direkten Umfeld der Artilleriestraße, sondern aus dem weiteren Umfeld, der bereits „freigemessen“ gewesen sei. Allerdings wurden am 11.5.23 Arbeiten genau auf Höhe der Artilleriestraße dokumentiert (vgl. links). Laut den Fuhrscheinlisten wurde Erde an diesem Tag ausschließlich in den Bereich des PAK-Fundes in der nicht beprobt Dammaufschüttung zwischen Bauwerk 8 und 9 eingebracht. Das widerspricht der Aussage des Regierungspräsidiums und zeigt, dass diese Erde durchaus im Rahmen des Hexylfundes hätte nachbeprobt werden müssen.

 

(Nachtrag: Das Regierungspräsidium hat sich dann doch noch zu einer Nachbeprobung entschlossen. Allerdings nur der Außenflächen und der obersten 10 - 30 Zentimeter. Es ist unklar, ob die Erde oben tatsächlich aus der Artilleriestraße stammt. Die am wahrscheinlichsten kontaminierte Erde befindet sich jedenfalls im Inneren des Damms.


2) Keine ordnungsgemäße Freimessung des Materials an der Artilleriestraße

Verstörend ist auch, dass das Regierungspräsidium Gießen schreibt, die Erde nördlich und südlich der Artilleriestraße sei bereits „freigemessen“  worden, daher sei eine Verlagerung dieser Erde zulässig gewesen (Ebenso in Antwort 2 der Kleinen Anfrage im hessischen Landtag). Dem steht gegenüber:

  

Die Beprobung nördlich der Artilleriestraße endete bei Baukilometer 58:850 und damit 45 Meter nördlich der Artilleriestraße. Damit war der Bereich der ehemaligen hochkontaminierten Hexa-Packhäuser 3084 und 3085 NICHT freigemessen. Stattdessen waren im Süden der ehemaligen Baugruben Hexyl-Werte von bis zu 22,5 mg/kg und PAK-Werte von bis zu 15 mg/kg dokumentiert. (Bild rechts) Diese Erde hätte also keinesfalls verlagert werden dürfen.   

 

3) Anhaltspunkte  für Überreste aus der Umgebung des Sanierungsareals

Irritierend ist außerdem die Antwort des Behördensprechers an die Oberhessischen Presse auf die Nachfrage, ob die Brocken nicht von der Füllgruppe II oder aus deren direkter Umgebung stammen: „Da das Sanierungsprojekt Füllgruppe II erfolgreich abgeschlossen wurde, bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich um Überreste aus dem betroffenen Sanierungsareal handelt.“ Dabei befand sich die Artilleriestraße, in nächster Nähe zu den sanierten Gebäuden 3084 und 3085 (gelbe Rechtecke in Bild)?[4]  Und obwohl diese Gebäude nach dem Krieg gesprengt worden waren und die Belastungen damit weit verbreitet worden waren, endete das Sanierungsprojekt Füllgruppe II an der Artilleriestraße. Die über 35.000 m2 große Fläche südlich wurde nicht saniert.

Und selbst für den sanierten Bereich gilt, dass nicht alle Erde hätte verlagert werden dürfen. Denn saniert wurde nur bis zum sogenannten „Sanierungseingreifswert“, also dem Wert, ab dem eine Sanierung erforderlich ist. Dieser liegt bei den Sprengstoffen bei 20 mg/kg. Erde darf allerdings nur bis zu einem Wert von 0,02 mg/kg außerhalb des WASAG-Geländes wieder eingebaut werden darf. Die Erde aus den Sanierungsbaugruben der Gebäude mit Restkontaminationen von bis zu 22,5 mg Hexyl (s. Bild oben rechts) hätte damit nicht verlagert werden dürfen.

4) Fremdmaterialien

Innerhalb wie außerhalb des Sanierungsbereichs wurden von Anwohner:innen außerdem immer wieder PAK-haltige Teer-Stücke (Bild 5) und andere mutmaßliche kontaminierte Fremdmaterialien wie Kanalrohre gefunden. Auch die beim Aufriss der Artilleriestraße gefundenen hochwahrscheinlich PAK-haltigen Brocken wurden trotz einer Meldung an das Regierungspräsidium von den Bauausführenden geschreddert.[6]  

 

Dass diesen vielen Verstößen gegen wichtige Wasserschutzbestimmungen vom Regierungspräsidium nicht geahndet werden, lässt für Katharina Lipinski von den Parents for Future nur einen Schluß zu: „Es wirkt, als ob das Regierungspräsidium den Wasserschutz beim Ausbau der A49 nicht umsetzen darf – ebensowenig wie die Staatsanwaltschaft, die Untersuchungen zu Strafanzeigen mit den Argumenten des Regierungspräsidiums abweist. “ Dabei müssen diese zahlreichen Missachtungen des Wasserschutzes beim Umgang mit den Altlasten umgehend aufgearbeitet werden. Ebenso wie die illegalen Einleitungen von Baustellenwasser in die Joßklein und die Gleen. Bis dahin muss umgehend ein genereller Baustopp erteilt werden. Denn das Wasser ist eine lebensnotwendige Ressource – der schnelle Ausbau der Autobahn nicht.

 

[1]   Die Antwort wurde nicht von der Umweltministerin formuliert (siehe die Vorbemerkung), sondern vom Regierungspräsidium.

[2] Der Bereich nördlich von Baukilometer 58:150 und der Bereich zwischen 59:120 und der Main-Weser-Bahn wurde bis heute nicht freigemessen, obwohl im Bereich der ehemaligen WASAG-Bahn gravierende Kontaminationen wahrscheinlich sind.

[4] Quelle der Karte: Preuss, Eitelberg et al. 1991, Erkundung und Rekonstruktion des Sprengstoffwerkes der Westfälisch Anhaltischen Sprengstoff AG, erstellt für das RP Gießen in Vertretung für Umweltministerium Land Hessen.

[5] Dennoch sind noch „abfalltechnisch relevante Schadstoffbelastungen in den Bereichen des WASAG-Geländes verblieben, ebenso wie Auffüllungen mit Fremdbestandteilen," wie die Bau-ARGE in ihrem Bodenmanagementkonzept zugibt: Bodenmanagementkonzept der Bau-ARGE ÖPP A49 vom 20.4.21, S. 8

[6] Eine Entsorgung ist im Haufwerkskataster nicht dokumentiert.